Zur Abklärung neuroendokriner Stresserkrankungen
Die Untersuchung von Cortisol und DHEA im Speichel hat sich international als zuverlässige und einfach durchführbare Methode für die Diagnose und Behandlung von stressbedingten, körperlichen und psychosomatischen Erkrankungen etabliert.
Die Stressdiagnostik spielt eine wichtige Rolle bei verschiedenen Erkrankungen und Gesundheitsproblemen. Besonders bei neuroendokrinem Stress sind Störungen in der Reaktion auf körpereigene Glukokortikoide (Glukokortikoid-Sensitivität) von Interesse. Bei Krankheiten wie Depressionen, chronischem Erschöpfungssyndrom und posttraumatischen Belastungsstörungen können chronische Veränderungen in der Cortisol-Regulation auftreten, die zu erhöhten oder erniedrigten Cortisolwerten führen.
Durch die Untersuchung des Cortisol-Spiegels im Speichel und der Glukokortikoid-Sensitivität im Blut mithilfe des Lymphozyten-Suppressionstests können biochemische und immunologische Parameter analysiert werden, um Einblicke in die Stressregulation und die Fähigkeit zur Cortisolsynthese zu ermöglichen. Die laborbasierte Erkenntnis, dass es eine Ursache oder zumindest eine Erklärung für bisher ungeklärte chronische Beschwerden gibt, kann die Betreuung der Patienten und die Anleitung zur Selbsthilfe erheblich vereinfachen.
Cortisol – das Stresshormon
Glukokortikoide sind eine Art von Steroidhormonen, die hauptsächlich in der Nebennierenrinde hergestellt werden. Das wichtigste körpereigene Glukokortikoid ist Cortisol, dessen Freisetzung durch die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse reguliert wird. Die Produktion von Cortisol folgt einem zirkadianen Rhythmus, wobei morgens mehr Cortisol freigesetzt wird, um Glukose und Energie bereitzustellen. Dies geschieht durch die Ausschüttung des Corticotropin-Releasing-Hormons (CRH) aus dem Hypothalamus, das die Produktion von Adrenocorticotropin-Hormon (ACTH) aus der Hypophyse anregt. ACTH stimuliert die Cortisolsynthese in der Nebennierenrinde, wodurch die Cortisolspiegel am Morgen ansteigen. Im Laufe des Tages regulieren negative Rückkopplungsmechanismen die Produktion von CRH und ACTH, was zu einem kontinuierlichen Rückgang der Cortisolspiegel führt. Abends erreichen die Cortisolspiegel ein Minimum und steigen dann langsam über Nacht wieder an.
Unabhängig von unserem inneren biologischen Rhythmus können akute körperliche oder psychische Belastungen jederzeit zu einem starken Anstieg der Cortisol Freisetzung führen. Cortisol ist neben den Katecholaminen das wichtigste Hormon, das in Stresssituationen um das 5- bis 10-fache ansteigt. Es reguliert die neuroendokrine Steuerung der Stressachse und trägt dazu bei, die Stressreaktion zu beenden. Es besteht eine komplexe Interaktion zwischen Cortisol und anderen Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin, Serotonin, GABA und Glutamat in der Feinabstimmung der Hormonantwort.
Physiologische Wirkungen von Cortisol
Die Hauptaufgabe des Cortisols ist es, den Körper bei akuten und langanhaltenden körperlichen und psychischen Belastungen mit Energie zu versorgen. Es mobilisiert gespeicherte energiereiche Verbindungen, fördert die Produktion von Glukose aus Kohlenhydraten und Proteinen in Leber und Muskeln sowie die Freisetzung von Fettsäuren aus dem Fettgewebe. Cortisol erhöht den Energieverbrauch durch die Aktivierung von Stresshormonen wie Katecholaminen, steigert die Körpertemperatur und Aufmerksamkeit und hemmt die Glukoseaufnahme in peripheren Geweben. Dies führt zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels und unterstützt die Lipolyse, um zusätzliche Energie bereitzustellen.
Cortisol beeinflusst das Herz-Kreislauf-System, um den Blutdruck und die Herzleistung je nach Bedarf zu regulieren. Es hat auch Auswirkungen auf den Schlaf, das Gedächtnis, die Stimmung und den Appetit.
Akuter Stress
Der Körper reagiert auf Stress, indem er Energiereserven mobilisiert, den Grundumsatz erhöht, den Kreislauf und die Atmung beschleunigt, die Muskulatur besser durchblutet und die Aufmerksamkeit erhöht. Gleichzeitig werden nicht lebenswichtige Funktionen wie die Verdauung, das Immunsystem, die Sexualorgane und das Schmerzempfinden gehemmt. Im Gehirn wird die Verarbeitung des Großhirns verlangsamt und das Stammhirn übernimmt die Entscheidungsfindung, was zu schnelleren Reaktionen führen kann, aber auch zu mehr Fehlern. Diese physiologischen Reaktionen sind normal und haben keine negativen Auswirkungen, solange der Körper sich erholt. Wenn Stress jedoch überwältigend wird und die physiologischen Kompensationsmechanismen überfordert, können negative Auswirkungen entstehen.
Die Stressreaktionen im Körper werden durch ein komplexes Netzwerk aus Hormonen und Neurotransmittern vermittelt. Bei einem akuten Stressreiz werden Noradrenalin im Locus coeruleus und CRH im Hypothalamus ausgeschüttet, was die Hormone der HHN-Achse und des Nebennierenmarks sowie die Neurotransmitter steuert. Die koordinierte Aktivierung von anregenden und dämpfenden Prozessen ist entscheidend für das Gleichgewicht in diesen Regelkreisen und die schnelle Rückkehr zum Normalzustand.
Stressbedingter Hypo- und Hypercortisolismus
Bis vor Kurzem wurde angenommen, dass stressbedingte Krankheiten aufgrund der Aktivierung der HHN-Achse nur mit einem zu hohen Cortisolspiegel (Hypercortisolismus) in Verbindung gebracht werden. Aktuelle Studien zeigen jedoch, dass auch ein Cortisolmangel (Hypocortisolismus) eine Rolle spielen kann. Etwa 20-25 % der Personen, die chronischem oder traumatischem Stress ausgesetzt sind, leiden an einem relativen Hypocortisolismus. Die Gründe dafür können ein Mangel an CRH oder ACTH, ein Mangel an Cortisol oder eine erhöhte Sensibilität der Zielzellen für Cortisol sein.
Chronischer Stress
Wenn Stressoren in Anzahl, Dauer und Intensität überhand nehmen und die Stress-Regelkreise des Körpers überfordern, kann dies zu einem permanenten Alarmzustand führen. Dieser Zustand kann langfristig die Gesundheit stark beeinträchtigen. Zudem kann Stress Stress auslösen und schon kleine Reize können eine Stressreaktion hervorrufen und diese schließlich chronisch werden lassen.
Bei chronischem Stress ist die hormonelle Stressachse ständig aktiviert, was zu einer erhöhten Cortisol Produktion in der Nacht und am frühen Morgen im Vergleich zum Normalzustand führt. Der normale tägliche Rhythmus des Cortisolspiegels bleibt jedoch erhalten. Bei anhaltendem Stress und einem verstärkten Cortisolspiegel kann dieser normale Rhythmus aufgehoben werden, was zu starken Tageschwankungen mit chaotischen Kurven führen kann.
Auch das Verhältnis von anderen Neurotransmittern und Hormonen ist bei chronischem Stress gestört. Das Ungleichgewicht im Neurotransmitter-System kann zu verschiedenen Gesundheitsproblemen führen, wie Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Migräne und Schlafstörungen aufgrund von Angstzuständen. Menschen mit geringem Selbstbewusstsein und einer Tendenz zur Depression können eine übermäßige und möglicherweise dauerhafte Aktivierung der Cortisolachse aufweisen.
Cortisol und Immunfunktion
Ein dauerhaft erhöhter Cortisolspiegel beeinträchtigt die Effektivität des Immunsystems, insbesondere bei der Abwehr von Infektionen und der Bekämpfung von Krebszellen. Menschen mit Krebserkrankungen, insbesondere bei der Entwicklung von Metastasen, haben in der Regel höhere Cortisolwerte als gesunde Personen. Cortisol hemmt die Freisetzung von entzündungsfördernden Substanzen wie Arachidonsäure, Prostaglandinen und Leukotrienen, blockiert die Synthese von proinflammatorischen Genaktivatoren wie NF-κB und verhindert die Freisetzung von Entzündungsmediatoren wie IL-1 und IL-6.
Cortisol und Gehirnaktivität
Ein dauerhaft hoher Cortisolspiegel im Körper kann zu schädlichen Auswirkungen im Gehirn führen. Dadurch kann der Abbau von Gehirnzellen beschleunigt werden. Um sich zu erholen und die Gehirnzellen zu regenerieren, ist es wichtig, die durch Stress ausgelösten Cortisolspiegel durch körperliche Bewegung, Entspannungstechniken und Gehirntraining zu reduzieren.
Frühere Studien haben bereits gezeigt, dass chronischer Stress das Risiko für die Entwicklung von Alzheimer erhöhen kann. Hohe Cortisolspiegel können dazu führen, dass Gehirnzellen absterben. Dadurch kann es zu einer Beeinträchtigung des Gedächtnisses bei älteren Erwachsenen kommen. Menschen, die starkem Stress ausgesetzt waren, hatten ein doppelt so hohes Risiko für die Entwicklung von Alzheimer im Vergleich zu Personen, die weniger Stress erlebten.
Glukokortikoid-Sensitivität
Die Intensität der Reaktionen, die durch Cortisol gesteuert werden, hängt nicht nur von der Menge an Cortisol ab, sondern auch von der individuellen Sensitivität gegenüber Glukokortikoiden. Wenn über einen längeren Zeitraum zu viel Cortisol im Körper vorhanden ist, kann dies zu einer verminderten Empfindlichkeit gegenüber Glukokortikoiden führen. Es wird vermutet, dass dies teilweise auf eine gestörte Funktion des Glukokortikoidrezeptors zurückzuführen ist.
Damit Cortisol wirken kann, haben fast alle Zellen im Körper Glukokortikoid-Rezeptoren. Die entzündungshemmende und immunsuppressive Wirkung von Glukokortikoiden beruht hauptsächlich auf der Interaktion mit diesen Rezeptoren. Die hormonbindende Form der Rezeptoren (GRα) befindet sich inaktiv im Zytoplasma der Zelle, verbunden mit einem Proteinkomplex (Hitze-Schock-Proteine, HSP).
Glukokortikoidmoleküle gelangen durch passive Diffusion durch die Zellmembran in das Innere der Zelle, wo sie die Hormonbindungsstelle des GRα besetzen. Dadurch wird der HSP-Komplex abgespalten und der Rezeptor aktiviert. Der GRα wandert dann aktiv durch die Kernmembran in den Zellkern, wo er die Transkription von Genen steigert, hemmt oder beeinflusst, die von Glukokortikoiden abhängig sind, durch Transrepression.
Hypo- und Hyperreaktivität der Glukokortikoid- Rezeptoren
Die Glukokortikoid-Sensitivität beschreibt, wie stark Hormone auf die Körperzellen wirken, wenn eine bestimmte Cortisolkonzentration vorliegt. Die Reaktion der Zielgewebe auf Cortisol variiert je nach Ausprägung der Glukokortikoid-Sensitivität. Normalerweise ist die Wirkung bei Rezeptoren mit normaler Sensitivität stärker als bei verringerte Sensitivität, selbst bei gleichem Cortisolspiegel.
Eine Glukokortikoid-Resistenz kann entweder an der Sensitivität oder an der Menge der Glukokortikoid-Rezeptoren liegen. In diesem Fall ist die Wirkung von Cortisol an den Zielorganen reduziert, was zu einer erhöhten Cortisol- und ACTH-Produktion führt. Genetisch bedingte Glukokortikoid-Resistenzen sind selten, während erworbene Resistenz häufiger vorkommt und normalerweise die entzündungshemmende Eigenschaft der Steroidhormone betrifft.
Symptome einer Glukokortikoid-Resistenz oder -Hyperreaktivität können denen von Nebenwirkungen bei Cortisolüberproduktion oder -mangel ähneln, abhängig von den betroffenen Organen. Etwa 3 % der Bevölkerung haben eine Glukokortikoid-Resistenz, während etwa 4 % eine -Hypersensitivität aufweisen.
Depression vs Chronic Fatigue: auch eine Frage der Cortisol-Sensitivität
Aufgrund von ähnlichen Symptomen wie große Erschöpfung, Gedächtnisprobleme und Schlafstörungen werden das Chronic Fatigue Syndrome (CFS), Depression und Burnout oft miteinander verwechselt. Eine depressive Erkrankung geht ebenfalls mit diesen Symptomen einher, jedoch gibt es charakteristische Unterschiede zwischen den Erkrankungen. Während sich eine Depression langsam entwickelt, tritt CFS oft plötzlich auf, häufig nach einem vorherigen Infekt. Regelmäßige sportliche Aktivität kann depressiven Symptomen entgegenwirken, während sich die Symptome beim CFS durch Anstrengung verschlechtern können. Zudem ziehen Menschen mit Depression sich oft zurück, während CFS-Betroffene aktiv Hilfe suchen.
Differenzierungsmöglichkeit durch Erfassung der Cortisol-Sensitivität
Depression
Studien haben gezeigt, dass die Sensitivität für das körpereigene Hormon Cortisol eine wichtige Rolle bei der Entstehung von affektiven Störungen wie Depressionen spielt. Die Reaktion eines Organismus auf Stress hängt unter anderem von der Reaktivität des Glukokortikoid-Rezeptors ab. Wenn die GRα-Variante dieses Rezeptors weniger aktiv ist, kann eine Cortisol-Resistenz entstehen, die zu einer übermäßigen Aktivität der Stressachse führt. Dies führt zu einer verstärkten Ausschüttung von Stresshormonen und einer Vergrößerung der Nebennieren. Bei depressiven Patienten wurde beobachtet, dass die Normalisierung der Aktivität dieses Rezeptors durch Antidepressiva zu einer Normalisierung der Cortisolproduktion führt, was zu einer Verbesserung der Depression führen kann. Die Messung des Cortisolspiegels im Tagesverlauf und der Glukokortikoid-Sensitivität kann daher sowohl zur Diagnose von depressiven Störungen als auch als Prognosefaktor für den Krankheitsverlauf und zur Überwachung der Therapie eingesetzt werden.
Chronic Fatigue Syndrome
Eine gestörte Funktion der Cortisol-Achse scheint die Ursache für die Entstehung des Chronic Fatigue Syndroms (CFS) zu sein. Beim CFS kann eine erhöhte Sensitivität des GR-Systems für Cortisol vorhanden sein, was zu niedrigen Cortisolspiegeln führt. Wenn die drei Hauptsymptome des CFS - Erschöpfung, Gedächtnisprobleme und Schlafstörungen - vorliegen, kann eine übermäßige Reaktion des GR-Systems dazu beitragen, diese Krankheit von einer Depression zu unterscheiden, bei der ähnliche Beschwerden häufig auftreten.
Der Dexamethason-Test in vivo und in vitro
Um festzustellen, ob eine Person eine übermäßige oder unzureichende Reaktion auf Glukokortikoide zeigt, wird in der medizinischen Diagnostik der sogenannte Dexamethason-Test durchgeführt. Dabei wird dem Patienten gegen 23 Uhr eine bestimmte Menge des Hormons Dexamethason verabreicht. Wenn eine Störung der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinde-Achse in Form einer Glukokortikoid-Resistenz vorliegt, zeigen sich am nächsten Morgen immer noch hohe Cortisolspiegel im Blut des Patienten. Bei gesunden Personen führt die Gabe von Dexamethason zu einer Hemmung der Cortisolproduktion, wodurch die Morgenwerte niedrig sind.
Eine alternative Methode zur Diagnose der Glukokortikoid-Sensitivität ist der Lymphozyten-Suppressionstest. Dabei wird die Fähigkeit von stimulierten Lymphozyten, sich zu vermehren, im Labor unter dem Einfluss von Dexamethason untersucht. Der Grad der Unterdrückung variiert je nach Sensitivität der Zellen für Glukokortikoide: Bei Personen mit Glukokortikoid-Resistenz ist der hemmende Effekt von Dexamethason deutlich schwächer ausgeprägt.
Der Lymphozyten-Suppressionstest zur Beurteilung der Glukokortikoid-Sensitivität
Die Glukokortikoid-Sensitivität gibt an, wie stark ein Hormon wirkt, wenn eine bestimmte Dosis verabreicht wird. Der Test bewertet, inwieweit die Zellteilung von zuvor angeregten Lymphozyten durch das Hormon gehemmt wird.
Procedere:
In Mikrokulturen wird untersucht, wie sich unterschiedliche Konzentrationen von Dexamethason auswirken. Dazu wird der IC50-Wert berechnet, welcher die Konzentration von Dexamethason angibt, bei der die Proliferation der Lymphozyten um 50 % gehemmt wird. Die Dosis-Wirkungsbeziehung wird verwendet, um diesen Wert zu bestimmen.
Cortisol und DHEA
Das Hormon DHEA, auch bekannt als Dehydroepiandrosteron, wirkt dem Stresshormon Cortisol entgegen. Es wird in der Nebennierenrinde produziert und spielt eine wichtige Rolle bei der Produktion von Sexualhormonen. In der Regel werden DHEA und Cortisol unter normalen physiologischen Bedingungen synchron ausgeschüttet, abhängig von der Sekretion von CRH und ACTH. Mit zunehmendem Alter nimmt die Produktion von DHEA ab, im Gegensatz zur Produktion von Cortisol, was zu einem Anstieg des Cortisol/DHEA-Verhältnisses während des Alterungsprozesses führt. Studien haben gezeigt, dass Patienten mit Demenz im Alter ein höheres Cortisol/DHEA-Verhältnis aufweisen als gesunde ältere Menschen. Ein niedriger DHEA-Spiegel im Alter kann zu verschiedenen altersbedingten Erkrankungen führen. Die Einnahme von DHEA-Präparaten kann die Stressresistenz erhöhen und vor altersbedingten Krankheiten schützen. Erhöhte DHEA-Spiegel sind mit einer höheren Knochendichte verbunden, während niedrige DHEA-Spiegel das Risiko für Arteriosklerose und Typ-2-Diabetes erhöhen können. Außerdem gibt es eine negative Korrelation zwischen dem DHEA-Spiegel und Entzündungsmarkern im Körper.